Systematische Zugvogelerfassung

Zu den faszinierendsten Erscheinungen der Vogelwelt gehört der saisonale Zug - der Heimzug in die Brut-gebiete im Winter bis Frühsommer und der Wegzug in die Überwinterungsgebiete ab Sommer bis Herbst. Seit Jahrzehnten und seit 1987 systematisch erfassen Prof. Dr. Martin Kraft und Unterstützer – seit 2016 nunmehr unter dem Dach von MIO e. V. - den Vogelzug im Marburger Land und Mittelhessen. Das Marburger Land ist nahezu ideal zur Erfassung europäisch-afrikanischer Vogelzugwege geeignet.
Während man für die meisten Kleinvögel von einem Zug auf breiter Front ausgeht, und für viele Arten die Verteilung des Zugaufkommens in der Fläche noch viele Unbekannte aufweist, ziehen hierzulande im mittleren Verlauf ihrer Zugstrecke Kraniche auf schmaler Front von 80 – 160 km Breite (über 90% des Zugaufkommens). Das mag daran liegen, dass zum einen sich das Zuggeschehen auf sehr wenige etablierte Massenrastplätze konzentriert, und zum anderen Kraniche sehr präzise navigieren können. In hessisch - mittelrheinischen Breiten imponiert somit der Kranich als Schmalfrontzieher par Excellence.
Ideallage Marburgs zur Zugvogelerfassung
Der Ostschenkel des westlichen Flugweges der Kraniche von Skandinavien und dem Baltikum nach Spanien ist nahezu genau über Marburg zentriert. Aber auch für viele andere Arten liegen von Marburg aus gesehen bedeutende Einzugsgebiete „zugaufwärts“. Für gar nicht wenige Arten, wie z.B. den Rotmilan - liegt Marburg sogar inmitten der Abflugwege aus den schwerpunktmäßig in Hauptzugrich- tung nordöstlich zentrierten Brutgebieten, also quasi im Unterlauf eines Stromes mit sehr großem Einzugsgebiet.  
Die lokale Topographie ermöglicht optimale Beobach- tung, bei gutem Zugwetter von Punkten mit vollstän-diger Rundumsicht u.a. auf offenen Hochplateaus.
Bei schlechtem Zugwetter ermöglicht der Verlauf u.a. des Lahntals und des Zwester Ohmtals nahezu in Zugrichtung auch eine gute Übersicht über das Zugaufkommen in Tal- lage. Nur ausnahmsweise kommt es bei bestimmten Wetterkonstellationen mit niedriger Wolkendecke, starken bis mäßigem Gegenwind und aufkommenden Nieselregen auch zur Konzentration des Vogelzuges in diesen Tälern. Auch an Rastgebieten ist das Marburger Land reich gesegnet. Zur Rast wird je nach Vogelart der bevorzugte Lebensraum aufgesucht: Wasser und Schlick v.a. im Lahntal und Amöneburger Becken, Offenland v.a. auf offenen Höhenrücken - mit dem Vorteil einer günstigen Starthöhe für den Weiterflug - mit Feldhecken und Streuobstbeständen bzw. Schlafbäume vereinzelt stehend oder im Wald.
Die Flughöhe sämtlicher Flugtiere ist von Wind und Wetter aber nicht von der Art abhängig
Jeder weiß, dass Schwalben bei bevorstehendem Regen tief fliegen, weil auch die Insekten tief fliegen, bei schönem Wetter hingegen deutlich höher. Generell können sich Vögel durch Schlag- bzw. Ruderflug oder durch Segelflug in der Luft bewegen. Einige Arten – wie z.B. Störche, Geier, Adler und Milane nutzen besonders gerne die Segelflug- technik und sind insbesondere auf dem Zug auch darauf angewiesen.

Bedeutung von Aufwindzonen für den Segelflug
Die Segelflieger unter den Vögeln  - genauso wie Gleitschirmflieger und weitere Flugtiere - fliegen, soweit verfügbar, immer wieder Aufwindzonen an, um an Höhe zu gewinnen bzw. sich hochzuschrau-ben. Dies geschieht sowohl auf der  Kurzstrecke und ist auch immer wieder während der Langstrecken-
 -flüge zu beobachten. Mindestens beim Start müssen sich Vögel einmal auf die dann wetterabhängig optimale Reisehöhe hochschrauben. In einer neu gebildeten Aufwindzone folgen emportreibenden Insekten die ersten Kleinvögel. So sind sie leicht für nachfolgende tierische und mitunter menschliche Segler zu erkennen. Wer den Vogelflug verstehen möchte, sollte sich auch einmal mit Leuten unterhal-ten, die selbst fliegen.   
Aufwinde bilden sich zum einen durch Thermik über Flächen, welche schnell durch die Sonneneinstrah-lung erwärmt werden, wie z.B. trockenen Felder, Sand-, Stein-, Asphalt-, Dach- oder Brachflächen. Kommt es durch die mitgeführte Feuchtigkeit zur Wolkenbildung, verstärkt sich dieser Effekt durch Freisetzung der Kondensationswärme und Abkühlung noch einmal – an der Erdoberfläche Schub, in
der Wolke Sog. Zum anderen entstehen Hangaufwin-de, wenn eine horizontale Luftströmung auf Hindernisse trifft, wie Berge, Waldstreifen, Gebäudefronten oder auch Wind-parks, welche sie nach oben umlenken. Schließlich entstehen Aufwinde auch in Konvergenzzonen wenn Luftmassen aufeinander strömen, z.B. an Sommerabenden beim Zu-sammentreffen von Kaltluftströmen aus gegenüberliegen-den Berghängen, oder auch in der freien Atmosphäre, wenn eine anströmende Warmfront über eine ruhende Kaltfront aufgleitet, oder in der Mitte eines Tiefdruckgebietes.
Besonders gute Aufwinde bilden sich, wenn sich Thermik und Hangaufwind überlagern z.B. an kahlen wind- und sonnenzugewandten Hängen. In solchen Aufwindzonen treiben sämtliche Flugobjekte, sogar auch die leblosen, nach oben.
Höhenkorridore des saisonalen Vogelzuges
Auf dem saisonalen Zug können grob folgende Situationen unterschieden werden (vgl. Abb. 1):
1.    Bei starkem Gegenwind ziehen Vögel sehr niedrig, da aufgrund der Reibung mit den Geländestrukturen der Wind in Bodennähe langsamer weht. Dieser bodennahe Breitfrontenzug ist eher selten.
2.    Bei mäßigem Gegenwind erfolgt der Vogelzug in 100 – 300 m Höhe in 1-2 vertikalen Schichten, * im Spätsommer auch in bis zu 4 Schichten bis in 500 m Höhe.
3.    Bei schwachem Gegenwind lassen sich häufig 3 – 6 vertikale Schichten ziehender Vögel ausmachen, in 300 – 1000 m Höhe.
4.    Bei Windstille bis mäßigem Rückenwind ziehen Vögel in sehr großer Höhe über 1000 m Höhe. Es sind über 6 vertikale Zugschichten möglich.

5.    Bei frischem Rückenwind konzentrieren sich Vögel etwas stärker auf das Höhenband zwischen 500 – 1000 m und können z. T. über 120 km/h erreichen.
6.    Werden Vögel mitten im Zug von aufkommen-dem Seitenwind, Sturm, niedriger Wolkendecke, einsetzendem starken Regen oder dichtem und hoch reichendem Nebel überrascht, löst sich die Zugfor-mation auf, die Vögel kreisen auf der Suche nach geeigneten Landeplätzen und gehen herunter. Herrschen solche Wetterbedingungen am bereits aufgesuchten Rastplatz, ziehen sie erst gar nicht los.

Besonders starkes Zugaufkommen ist in den Situationen 3. und 4. zu beobachten. Bei 5. ziehen fast nur Gänse, Kraniche und Kormorane. Leichter Regen stört unter diesen Bedingungen nicht. Früher Heimzug ist fast nur bei schwachem bis mäßigem
Rückenwind (4.) zu beobachten, etwa bei Rotmilan, Kranich, Kiebitz, Goldregenpfeifer und Feldlerche. Später im Frühjahr ist auch bei kaltem Gegenwind starkes Zuggeschehen zu sehen, bei Windstille oder Rückenwind Massenzug vor allem der Gänse, Kormorane, Kraniche, Ringel- und Hohltauben, sowie Rotdrosseln. Am Rand von Gebirgszügen quer zur Zugrichtung kann es auch zu Verdichtungen des Vogelzuges kommen. Regelmäßig ist dies am Westrand der Pyrenäen zu beobachten. Ist bei mäßigem Gegenwind bzw. tief hängender Wolkendecke sehr niedriger Zug erforderlich, können auch schon Mittelgebirgsformationen zu lokalen Verdichtungen führen. Am häufigsten ist aber zu beobachten, dass der Breitfrontenzug auf gerader Route erfolgt und bei niedriger Zughöhe den Höhen und Tiefen des Geländeprofils folgt und bei großer Zughöhe vom Geländeprofil unbeeinflusst bleibt.
Ganz ähnlich der Topographie der hiesigen Mittelgebirgsregion folgte auch in der Schweizer Studie auf den Radar 2,5 km in Zugrichtung ein Höhenzug, welcher den Radarstandort um 100 m überragte. Daher wurde hier – beispielhaft für das WEA-Projekt Wolfshausen in VRG3135 – aus diesen Radardaten auch das Zugaufkommen in 160 – 343 m Höhe extrapoliert, welches genau dem durch die Rotoren von WEA abgedecktem Höhenbereich über der Sohle des Tals entspricht. Diese 183 m dicke Luftschicht wurde auf dem nächtlichen Herbstzug von 25% der Vögel genutzt.
Das Schweizer Institut für Ornithologie Sempach erfasste im Schweizer Jura bei Les Breuleux mittels Radar tags und nachts den Vogelzug über eine 1 km breite Strecke quer zur Zugrichtung bis in 2,5 km Höhe über Grund vom 26.02. bis 17.11.2015 (ASCHWANDEN & LIECHTI 2016). Da Vögel nachts mit deutlich mehr Abstand voneinander fliegen, ließen sich nachts einzelne Vögel auflösen, tags hingegen entsprach ein Echo im Radar einem kleineren Trupp Vögel. Das Zugaufkommen (Vögel bzw. Trupps, welche pro Stunde die 1 km breite Testlinie überflogen) wurde für jede 100 m Höhenschicht getrennt berichtet und ist für die o.g. Höhenkorridore in Tabelle 2 wiedergegeben.
Bemerkenswert ist, dass im Frühjahr die Luftschichten über 1000 m viel häufiger genutzt wurden und im Herbst solche unter 500 m häufiger. Ferner erfolgt nachts offenbar weniger bodennaher Zug und im Herbst war der Nachtzug jeweils in höhere Korridore verschoben. Im Frühjahr wurden nachts die Höhenschichten zwischen 1700 und 2300 m häufiger genutzt (13% nachts versus 4% tags). Bedauerlicherweise wurde die Zughöhe nicht Tag für Tag mit der Windstärke und – richtung korreliert, jedoch letztere und das Gesamtzugaufkommen für jeden Tag und jede Nacht berichtet. So erfolgte ein Großteil des Frühjahrszuges bei leichtem bis mäßigem Rückenwind und erstaunlich viel bei Gegenwinden aus östlicher Richtung. Obwohl keinerlei Unterscheidung nach Größe und Flugmuster getroffen wurde, interpretieren die Autoren das nächtliche Zugaufkommen zum allergrößten Teil als Singvögel.
Artabhängig ist der Zugzeitpunkt. Es gibt das ganze Jahr über Vogelzug.
Bereits Anfang Januar können in milden Wintern die ersten Kraniche heimziehen, so z.B. am 04.01.2020. Damit beginnt der ornithologische Frühling. Auch die ersten Rotmilane ziehen schon im Januar heim, der Weißstorch Hänsel kehrte bereits mittags am 17.12.2019 an die Martinsweiher bei Niederwalgern zurück, nachdem er am 16.09.2019 weggezo-gen war. Die letzten Wespenbussarde treffen erst Ende Mai in Mittelhessen ein. Wachtelkönig, Gelbspötter und Sumpfrohrsänger kehren oft erst Anfang Mai heim.
Der ornithologische Herbst beginnt mit dem Wegzug der weiblichen Waldwasserläufer, im Marburger Lahntal meist 30.05 oder 01.06. Dies überlappt sich mit hochnordischen Arten wie Sandregenpfeifern, die noch Anfang Juni heimziehen können. Wenig später im Juni beginnt auch der Wegzug der weiblichen Dunklen Wasserläufer und es setzt der Zwischenzug von Kiebitzen und Staren ein. Der Juli und Anfang August sind die Hauptzugmonate für die Erstbrut der Rauchschwalben. Zudem nimmt die Zahl ziehender und rastender Watvögel immer mehr zu. Mauersegler erreichen oft schon gegen Ende Juli ihren Zughöhepunkt.
Der August ist ein wichtiger Zugmonat für Graureiher, Weiß- und Schwarzstörche, Fischadler, Wespenbussarde, Rohr- und Wiesenweihen, Rotmilane (vorwiegend Jungvögel), Schwarzmilane, Hohltauben, einige Grasmücken, Rohr- und Laubsänger, Baum- und Brachpieper, Schafstelzen und Ortolane. Anfang September kulminieren vor allem die Schwalben und danach wird der Singvogelzug immer stärker. Gegen Ende September setzt der Zug adulter Rotmilane ein und es ziehen viele Feldlerchen und Buchfinken.
Der stärkste Zugmonat überhaupt ist der Oktober, wenn nicht nur Großvögel wie Gänse, Kormorane, Kraniche und Greife, sondern auch endlose Zahlen von Ringeltauben,  Drosseln, Staren und vielen anderen Kleinvögeln ziehen. Bei Gänsen, Rotmilanen, Kranichen und Kiebitzen kann sich der Zug bis weit in den November hineinziehen. In Invasionsjahren können Bergfinken im November und Dezember in millionen-facher Stärke ziehen, bis sie sich an bestimmten Schlaf- und Überwinterungsplätzen sammeln.
Der Wegzug der Kraniche kann dann noch den gesamten Januar über andauern - wobei es sich um die Kälteflucht von Individuen handeln wird, welche zur Überwinterung noch an den Rastplätzen verweilten - und überlappt sich mit dem Heimzug weiter nördlich z.B. in Südschweden brütender Individuen. In anderen Jahren waren allenfalls wenige Tage Pause zwischen letztem Weg- und frühestem Heimzug. Die Zugzeiträume und die ungefähre Verteilung des Zugaufkommens einer Reihe von Arten im Marburger Land, wurden zu einem Vogelzugkalender (Abb. 2) zusammengefasst. Dieser beruht auf den nahezu täglichen (24,4 Tage im Monat) Beobachtungen und Zählungen von Prof. Kraft in den Jahren 2017-2020.
Besondere Zugphänomene, Tag- und Nachtzieher
-    Teilzieher: Von bestimmten Arten wie z.B. Mäuse-bussarden, Meisen, Amseln und Rotkehlchen zieht im Herbst nur ein Teil der Individuen weg. Meist handelt es sich um Kurzstreckenzieher. Einhergehend mit der Klima-erwärmung der letzten Jahrzehnte nimmt der Anteil der Überwinterer immer weiter zu. Auch fliegen viele Vögel nicht mehr so weit nach Südwesten, überwintern also z. B. in Frankreich und Spanien statt in Marokko und im Senegal. Bestimmte Vögel werden den ganzen Winter über an Orten angetroffen, die früher typische Zwischenstationen waren. Für einzelne Marburger Störche war in den letzten Wintern schon „Urlaub im Inland“ in der Wetterau im Bingenheimer Ried angesagt. Wer wegzieht und wer dableibt entscheidet sich offenbar nicht spontan. Nur die Zieher futtern sich in den Wochen vor dem Aufbruch die nötigen Fettreserven an, die Überwinterer tuen sich erst später gütlich.  

-    Mehrere Zugmaxima: Z. B. Kiebitze und Sandregen-pfeifer weisen im Frühjahr zwei und Bekassinen im Herbst zwei bis drei Zugmaxima auf. Dies kann sich z. B. aus der Existenz von zwei oder mehr Schwerpunktbrut-gebieten erklären. Aus dem weiter nordöstlich gelegenen wird früher und zumeist weiter abgezogen und es wird später heimgekehrt. Im Marburger Lahntal wurde etwa Kiebitzug vom 30.09.-21.11.2017 mit 6708 Individuen registriert. Nach einer Pause waren dann zwischen 02.12.2017 und 10.01.2018 an 18 Tagen 2037 rastende Kiebitze zu sehen. Mehr in VÖGEL 02/18: 82-83 unter „Veröffentlichungen“.
-    Zwischenzug: Gerade auf dem Wegzug legen z.B. Kiebitze einen Ausgedehnten Zwischenstopp ein, u.a. um sich weitere Reserven anzufuttern. Einige Arten ziehen von Rastplätzen auch nur bei Kälteeinbruch weiter. Bleibt dieser aus, überwintern sie in der Zwischenstation.
-    Kälteflucht: Kommt es im Winter zu starken Kälte-einbrüchen, ziehen die hier verbliebene Überwinterer meist nur wenige hundert Kilometer vor der Kältefront weg. Die Motivation kann z.B. für Kraniche auch im Aufkommen für den Wegzug günstiger Nord-ostwinde  liegen, für Wasservögel im Zufrieren von
Gewässern und in der Verdeckung von Futterquel-len durch die Schneedecke. Gelegentlich kommt  es während einiger Wintertage zur Ausbildung ver-gleichsweise scharf abgegrenzter Klimazonen über Deutschland. Manchmal reichen dann schon 100 -200 km Flugstrecke aus, um auf wirtlichere Rastplät-ze zu treffen, wie etwa die Auen des Oberrheins. Vgl. VÖGEL 02/16: 80-81 unter „Veröffentlichungen“.
-    Zugstau und Umkehrzug: Kommt es auf dem Heimzug zu unerwartetem Kälteeinbruch, stärkerem Niederschlägen, Seitenwinden, oder eisigem Gegen-wind, gehen Zugvögel herunter und ziehen mitunter sogar erneut in südwestliche Richtung weg. Ein ausgeprägter Zugstau mit teilweise Umkehrzug war bei Kiebitzen, Goldregenpfeifern Sing- Wacholder- und Misteldrosseln im Lahntal vom 18.03. bis 21.03.2018 zu beobachten. Mehr in VÖGEL 03/18: 76-77 unter „Veröffentlichungen“.

Nachtzieher: Die Nacht bietet nicht nur Schutz vor Habichten und Sperbern, sondern auch vor Überhit-zung beim Schlagflug und in bestimmten Nächten sind gleichmäßigere, weniger turbulente Luftström-ungen verfügbar. Vögeln, die sich nicht von Flugin-sekten ernähren können, verbleibt beim Zug über Nacht der ganze Tag zur Nahrungssuche am Boden. Allerdings sind nachts weniger Aufwinde verfügbar. Nachtzug ist somit für solche Vögel besonders rentabel, die im Vergleich zum Energieaufwand fürs Fliegen einen hohen Grundumsatz haben.
Sehr viele Singvögel ziehen nachts. Nachts halten Vögel auf dem Zug größeren Abstand voneinander. Daher sind im Radar einzelne Vögel voneinander zu unterscheiden, während sich tagsüber sehr häufig mehrere zu einem Signal überlagern, jedoch nach entsprechender Kalibrie-rung weiterhin quantifizier-bar bleiben. Spannend ist in diesem Zusammenhang u.a. die Frage, wie die sonst tagaktiven Vögel ihren Tagesrhythmus umstellen, um diesen „Schichtwechsel“ zu bewältigen. Wachen sie in den Tagen vor dem Aufbruch früher auf, schlafen sie auf Vorrat oder feiern die Nacht vor dem Aufbruch durch?

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Studie zur Schichtumstellung wilder Amseln
- Hierzu wurden am MPI Radolfzell jüngst 44 wildlebende Amseln mit nur 2,5 g schweren Sendern ausgerüstet. Im Ergebnis brachen 21 Individuen um den 14 Oktober im Mittel erst 2h nach Einbruch der Dämmerung auf und flogen 200 km nonstop durch. 23 Amseln blieben da. Der Ablauf der Tage vor dem Aufbruch war völlig normal und unverändert. Allenfalls war in der ersten Hälfte der vorausgehenden Nacht leicht erhöhte Aktivität festzustellen, im Sinne dass sie eine „Abschiedsrunde“ flogen. Bei einzelnen Individuen war zusätzlich ein einziges Mal in 2 Monaten erhöhte Aktivität in der ersten Nachthälfte festzustellen. Dies unterscheidet sich deutlich von der legendären und international mit der deutschen Vokabel bezeichneten Zugunruhe, welche über gut zwei Wochen in jeder zweiten Nachthälfte in Folge nur bei Amseln in Gefangenschaft beobachtet wurde (Zúñiga, et al., 2016, Scientific Reports).
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Ausschließliche und streng obligate Nachtzieher gibt es nicht, denn wohl sämtliche Vogelarten wurden auch schon bei Tage auf dem Durchzug beobachtet.  Die Mondphasen scheinen keinen Einfluss auf das Nachtzugaufkommen zu haben. Typische Nachtzieher sind Stockente, Feldschwirl, Sänger, Sommer-goldhähnchen, Schnäpper, Rotkehlchen, Sperlinge
-    Tagzieher: nur tagsüber ziehen z.B. viele Greife, Störche, Blaumeise, Misteldrossel
-    Vorwiegend tags aber auch nachts ziehen z.B. Kraniche, Segler, Lerchen, Schwalben, Pieper, Stelzen.
-    Vorwiegend nachts ziehen z.B. Wachtel, Flussregenpfeifer, Kuckuck, Gartengrasmücke, Amsel, Bergfink.
-    tag- und nachtziehende Individuen gibt es  z.B. bei Wintergoldhähnchen, Star (die mitunter anzutreffende Bezeichnung des Stars als reiner Tagzieher ist eine Ente), Singdrossel, Wacholderdrossel, entlang derselben Routen.
- Ausschließlich über die Ostroute ziehen aus Deutschland ab: Schreiadler, Neuntöter, Klappergrasmücke, Sumpfrohrsänger.
Zu den erstaunlichsten Leistungen auf dem Vogelzug gehört die Überquerung der Sahara. Radarmessungen an 120 Zugtagen auf der Westroute in Mauretanien (Schweizerisches Ornitho-logisches Institut Sempach, Schmaljohann et al., 2007) zeigten, dass sich beim Herbstzug nur 2% des Zugaufkommens an Singvögeln auf den Zeitraum von 11 bis 19h verteilten und weitere 4% zwischen 7h und 11h, die restlichen 94% auf die Nacht einschließlich Morgen- und Abend-dämmerung. Die Flughöhe betrug im Median 1 km. Im Frühjahr zogen die Singvögel in sehr großen Höhen deutlich über 1 km, im Median 2,4 km und bis 4,4 km über Grund, mit 82% des Aufkommens nachts. 11% dehnten bei guten Rückenwinden den Nachtzug in den Vormittag  (7-11h) hinein aus und nur 7% des Zugaufkommens wurde in der Hitze von 11-19h detektiert. Dies erklärt sich durch die vorherrschenden Luftströmungen. In Bodennähe weht der Passat aus Nordosten mit im Herbst Durchschnittstemperaturen von 25-35°C . Alle Herbstzugtage zusammengenommen belief sich die durchschnittliche Rückenwindgeschwindigkeit auf 0 - 3 km/h. In großen Höhen weht der Antipassat aus Südwesten mit im Frühjahr 10-15°C und 10 km/h. So wurde eine Verlängerung des Nachtzuges in den Tag hinein nur an Tagen mit gutem Rückenwind beobachtet.
Diese Daten wiederlegen klar den Mythos vom non-stop Flug der Singvögel über die Sahara, denn dann hätten an den gewählten Messstellen bei unterschiedlichen Windgeschwindigkeiten an 120 Tagen Vögel zu allen möglichen Tageszeiten eintreffen müssen, oder  - wenn man überwiegend die durchschnittlich gemessene Reisegeschwindigkeit von 55 ±18 km/h unterstellt - insbesondere tagsüber und eben nicht in der Nacht. Sie sprechen ferner dafür, dass eine Umstellung von Tagzug auf Nachtzug extra für die Saharaüberquerung eher die Regel als die Ausnahme bei sonst tagziehenden Singvögeln ist. Dies ist bei der Schafstelze gut etabliert (Biebach et al., 2000). Lediglich ausgesprochene Segelflieger, welche fast zwingend auf Thermik angewiesen sind, wie Störche, Fischadler (Alerstam 2000), Schwarzmilane, weitere Greife und Geier überqueren die Sahara bei Tage. Zwar weisen die Oasen ein höheres Rastvogelaufkommen auf, doch das gros der Singvögel scheint tagsüber ohne Wasseraufnahme „auf freier Strecke“ zu rasten. Auf dem Herbstzug wurden gerade bei Einbruch der Dämmerung Massenaufbrüche aus der Nackten Wüste beobachtet, obwohl sich die Oase mit einem Vegetationsstreifen nur wenige Kilometer zugabwärts der Radarstation befand (Schmaljohann et al., 2007). Mit Einschränkungen gibt es von dieser Regel gewisse Ausnahmen: In der Studie von J. Ouwehand und C. Both (2016) wurden 80 Trauerschnäpper in den Niederlanden mit GPS-Trackern ausgerüstet. 27 konnten nach Wegzug und erneutem Heimzug wiedergefunden und ausgewertet werden. Die Daten zeigten einen Schleifenzug über die Straße von Gibraltar und an der afrikanischen Westküste entlang in die Überwinterungsgebiete in Guinea und Elfenbeinküste und von dort non-stop quer über die

Sahara zurück.  Im Gegensatz zu mehrstündiger Ruhe können kurze Zwischenstopps zur Wasser- und Nahrungsaufnahme  nicht ausgeschlossen werden und liegen auf dem Wegzug nahe. Von ähnlichen Schleifenzug geht man auch etwa für die Knäkente und für Jungvögel auf ihrem ersten Wegzug  aus. Dahingegen wählen Altvögel offenabr eher den direkten Weg quer durch die Sahara. Desweiteren über die Sahara ziehen u. a.  Wachtel, Zwergdommel, Wiesenweihe, Baumfalke, Flussregepfeifer, Turteltaube, Kuckuck, Zwergohreule, Mauersegler, Bienenfresser, Pirol, Ufer-, Rauch-, und Mehlschwalbe, Waldlaubsänger, Fitis, Nachtigall, Steinschmätzer, Schilf-, Teich- und Drosselrohrsänger, Garten- und Dorngrasmücke, Grau- und Trauerschnäpper, Braunkehlchen, Nachtigall, Gartenrotschwanz, Steischmätzer und Ortolan.
Kranichzug
Der Kranichzug (in den Bildern Mitte und rechts oben am 23.10.2019 über dem Marburger Lahntal) verläuft in der Regel schnurgerade. Dies geht nicht zuletzt immer wieder aus den Darstellungen bei ornitho.de hervor, welche mittlerweile von einem nahezu flächendeckenden Netz von Meldern gespeist wird. Der Standpunkt jedes Melders wird in eine Karte eingetragen. Zumal bei gutem Wetter dürfte sogar ein und derselbe Trupp mehrfach gemeldet werden. Gleiches zeigen auch die Ergebnisse von Besenderungsstudien mit GPS-Trackern, welche mittlerweile auf eine Datenbasis von über hundert Individuen zurückgreifen dürften. Leider immer noch anzutreffende Darstellungen mit gekrümmten Flugbahnen sind somit obsolet. Lediglich bei auf dem Flug plötzlich aufkommendem sturmartigen Seitenwind kommt es zu Verdriftungen, die sich in der Flugbahn aber eher als Knick
denn als Kurve abzeichnen dürften. Im Ostschenkel des westlichen Flugweges fliegen die Kraniche nonstop die 740 km von den Rastplätzen bei Linum / Havelluch (nahe Fehrbellin) zu den Rastplätzen an am Lac du Der Chantecoq (bei St Dizier) und benachbartem Etang de La Horre. Die direkte Luftlinie verläuft exakt über dem Marburger Südbahnhof. Über Mittelhessen werden sie seit 1987 systematisch von Zählern erfasst, die in einer Kette quer zur Zugrichtung angeordnet sind, von Laasphe, Herborn bzw. Todenhausen bis Hungen bzw. Vogelsberg, mit Martin Kraft regelmäßig in der Mitte.
Die Ergebnisse der Zählungen des Frühjahrs und Herbstzuges sind in Abb. 3 aufgetragen. Mehr dazu in VÖGEL 3/2020:76-79. Diese Daten sind von unschätzbarem Wert für die Abschätzung der
Populationsgröße und deren Entwicklung (vgl. Tabelle 1). Sie ergänzen wesentlich die Zählungen an Rastplätzen und Beringungsstudien.
Passend zum den Marburger Befunden berichtete auch der Lac du Der Chantcoq am 16.11.2019 einen Rekord von 268.120 rastenden Kranichen.

An den Rastplätzen verweilen die Vögel oft mehrere Tage, schweifen tagsüber zur Nahrungssuche kilometerweit in umliegende Äcker aus, Neuzugänge treffen gelegentlich auch erst bei Dunkelheit ein. Daher sind die Zahlen der täglichen Einflüge und Abflüge an Rastplätzen schwer erfassbar und schwer in fern- und Binnenverkehr aufzuteilen. Eher schon lässt sich eine Standzahl angeben; in der Sprache der Hoteliers die Übernachtungszahlen des Tages und der Saison aber nicht die Gesamtzahl Gäste und deren Aufenthaltsdauer. Zudem hat die Auffindbarkeit der Vögel im Schilf oder zwischen Gehölz in der weiten Fläche Grenzen. Die Berechnung der Populations-größe aus der Wiederfindungsrate beringter Vögel
hat eine gleichmäßige Durchmischung bzw. zumindest eine bekannte und reproduzierbare Vermischung der Stichprobe mit der jeweils untersuchten Teilpopulation als Grundvoraussetzung. Hier ist aber davon auszugehen dass viele Teilpopulationen sich nicht oder wenig durchmischen und quasi als „dunkle Materie“ der Erfassung entgehen.

Dass die Zunahme des Zugaufkommens über Mittel-hessen um den Faktor 16 von 1987 bis 2020 aus-schließlich zulasten des Westschenkels oder des öst-lichen Flugweges geht, ist auszuschließen, da auch die Rastbestände am Diepholzer Moor zugenommen haben, wie auch am Lac du Der Chantecoq, wo an einem einzigen Tag im Oktober 2019 262.000 Indivi-duen gezählt wurden. Ebenso hat die Population auf dem mittleren baltisch-ungarischen Flugweg mit dem wichtigen Rast- und Überwinterungsplatz Hortobágy in Ost-Ungarn und teilweise weiter nach Tunesien zugenommen.
Schließlich hat auch die Population auf der russisch-pontinischen Zugroute von Finnland, Karelien, Baltikum über die Krim, Zentralanatolien, Israel bis nach Äthiopien zugenommen. Die Westroute konnte aber ihren Anteil nunmehr deutlich auf etwa 60% steigern. Besenderungsstudien und Ringablesungen
zeigten, dass ein und dasselbe Individuum sowohl die Zugroute wechseln kann, wie auch ein tausende Kilometer vom Schlüpfort entferntes Brutgebiet aufsuchen kann (Prange 2016, Kapitel 18-25). Als neuer Rastplatz etabliert sich immer mehr der Helmestausee bei Kelbra östlich Nordhausen, die
Luftlinie von dort zum Lac du  Der verläuft zwischen Lich und Hungen. Auch fliegen einige Kraniche aus Richtung Hortobágy neuerdings Rastplätze in der Camargue (Rhônedelta) an und ziehen dabei nicht nur südlich, sondern teils auch nördlich der Alpen durch Südbayern.
Links sind 6897 Ringablesungen von 253 in Estland beringten Kranichen in die Landkarte eingetragen (aus A. Leito & I. Ojaste 2014 in Prange 2016, Seite 660). Es zeichnen sich klar ein westlicher, ein mittlerer und ein östlicher Flugweg ab. Erstaunlich ist, dass Meere nicht zwingend an der engsten Stelle überquert werden. Die sogenannte "Vogelfluglinie" Puttgarden-Rodbyhavn und Helsingör-Helsingborg trägt ihren Namen zu Unrrecht, das Gros des Kranichzugs geht über Ystad- Saßnitz. Ebenso fliegen - im Gegensatz zu Störchen - kaum Kraniche über den Bosporus aber viele mitten über das Schwarze Meer.
Die Westroute endet für die allermeisten Kraniche bereits in Spanien, wohingegen ausgesprochene Langstreckenzieher wie Schwarzmilan, Mauersegler, Pirol, Rauch- und Mehlschwalbe, Garten-rotschwanz, Fitis aber auch immer noch Störche, die Straße von Gibraltar bzw. das westliche Mittelmeer überqueren. Ebenso einige Kurz- und Mittelstreckenzieher wie etwa Feldlerchen und Stare.
Regelmäßig außerplanmäßige Kranichrast im Marburger Lahntal
Normalerweise wird die Strecke Linum – Lac du Der Chantecoq nonstop durch- und Marburg überflogen. Aber immer wieder erzwingen widrige Bedingungen wie dichter und hochreichender Nebel, einsetzender Regen und aufkommende Seitenwinde einen unplanmäßigen Zwischenstop. Daher sind von Jahr zu Jahr die Zahlen rastender Kraniche zwischen Wenkbach, Roth und Niederwalgern sehr unterschiedlich. Auf dem Wegzug 2019 gingen mehrfach hunderte von Kranichen herunter und blieben teils für mehrere Tage, so am 14.10.2019 2800 Individuen zwischen Roth und Argenstein. Am 15.10.2019 wurde Landung mehrerer Trupps zw. Wenkbach u. Roth berichtet, teils Weiterzug Richtung Marburg. Am 16.10.2019 waren noch 214 Indiv. Zw. Wenkbach und Niederwalgern (Fotos oben). Auch am 26-27.10.2019 rasteten Kraniche nördlich und nordöstlich der Martinsweiher, wie oben gezeigt. Auch auf dem Heimzug 2020 kam es zu größerer Rast im Marburger Lahntal, wie unten am 25.01.2020 auf der "Alten Lache", im Hintergrund Wolfshausen (Fotos © M. Kraft).
Vogelzug als „Event“ für Jung und Alt.
Ein Höhepunkt der lokalen Fangemeinde für den Vogelzug ist der meist am ersten Samstag im Oktober gemeinsam von der NABU-Ortsgruppe Lollar-Salzböden-Ruttershausen-Odenhausen und MIO e. V. ausgerichtete Zugvogelbeobachtunstag auf dem Altenberg westlich Odenhausen. Er wurde bereits schon filmisch in einer 8-minütigen Episode in Hans-Jürgen Zimmermanns „Birds & People – Ganz verrückt auf Vögel“ verewigt.
Die letzten Termine waren 12.10.2019, ca. 100 Teilnehmer; 13.10.2018, 80 Teilnehmer; 07.10.2017, 30 Teilnehmer; 15.10.2016, 55 Teilnehmer)
Vogelzug international, weitere links
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